Philipp Spörry analysiert die Bedeutung konsequenter Missbrauchsermittlungen und Opferentschädigungen in der Schweiz und macht Ungereimtheiten im Fall Pater Josef Kentenich sichtbar
Enrique Soros
Philipp Spörry, ehemaliger Staatskanzler des Schweizer Kantons Wallis, hat auf Kath.ch, der offiziellen Website der Schweizer Bischofskonferenz, einen Artikel veröffentlicht, in dem er das Thema des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche sowie die Rolle und den Einfluss der Medien dabei kritisch analysiert und als Herausforderung für die Kirche darstellt.
Der Artikel beginnt mit einem Verweis auf eine Studie, die von der Universität Zürich im Auftrag der Schweizer Bischofskonferenz durchgeführt wurde. Es handelt sich um eine Studie über sexuellen Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit 1950. Sie berichtet von 510 Angeklagten und 921 Opfern.
Die Veröffentlichung der Untersuchung, sagt Spörry, habe einen radikalen Wandel herbeigeführt: „Von einer Phase der Vertuschung und Verschleierung gingen wir über in eine Phase des Misstrauens gegenüber dem Klerus. Missbrauchsvorwürfe häuften sich und die kirchlichen Institutionen reagierten, indem sie die Angeklagten von ihren kirchlichen Funktionen entließen.“
Obwohl die Bischofskonferenz beschloss, transparent zu sein, die Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und die Opfer zu entschädigen, konnte durch diese Haltung das Vertrauen der Medien und sozialen Netzwerke in die Bischofskonferenz nicht vollständig wiederhergestellt werden.
Druck durch Medien und soziale Netzwerke
Angesichts des weitverbreiteten Verdachts auf die Schuld von Geistlichen gibt es Menschen, die diese Tatsache für ihre eigenen Zwecke ausnutzen. Spörry erklärt, dass „Geistliche aufgrund bloßer Anschuldigungen als Täter von Missbrauch disqualifiziert werden können. Der Geistliche wird zur Zielscheibe eines Diskreditierungssturms, d. h. in kürzester Zeit werden in den sozialen Netzwerken zahlreiche negative Kommentare verbreitet, die weitreichende existentielle Konsequenzen für den betreffenden Geistlichen haben.“ Und er fügt hinzu, dass „der daraus resultierende Dauerstress ein erhebliches Risiko für den Ruf des Geistlichen darstellt. Aufgrund der Allgegenwärtigkeit und Intensität, die einen Wirbelsturm von Dramen kennzeichnen, kann sich der betreffende Geistliche nicht gegen eine solche Agitation wehren und der Angeklagte wird öffentlich als Aggressor gebrandmarkt und für schuldig befunden, ohne dass weitere Ermittlungen oder Beweise vorliegen.“
Er fährt fort: „Mithilfe der sozialen Netzwerke wird eine Anschuldigung für die öffentliche Meinung zu einer bewiesenen Tatsache und die Empörung über diesen Geistlichen breitet sich wie eine Lawine aus.Gleichzeitig können wir sehen, dass es ausreicht, einen Wirbelsturm des Dramas gegen eine Person auszulösen und ihre Karriere in der Institution wird abrupt beendet.“
Der Autor fragt: „Wo bleibt in einer solchen Situation die Frage nach der Wahrheit und nach der Gerechtigkeit? Wer garantiert, dass die Angeklagten ihre Rechte wahrnehmen können? Die Medien und sozialen Netzwerke sind zweifellos meinungsbildende Instrumente, aber sie sind für ihre Berichte nicht verantwortlich und ihre Behauptungen unterliegen nicht der Vorlage von Beweisen.“ Damit wird das Recht auf Unschuldsvermutung überhaupt nicht berücksichtigt.
Der rechtliche Rahmen
Spörry verweist auf die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, die bei Verdachtsfällen zu beachten sind und bringt zum Ausdruck, dass „im Rechtsstaat nicht die Verurteilung einer Person durch soziale Netzwerke entscheidend ist, sondern das Urteil eines legitimen Strafgerichts, das auf Beweisen beruht und dem Angeklagten das Recht auf Verteidigung einräumt“. Er führt weiter aus, dass „die durch die Grund- und Menschenrechte garantierte Unschuldsvermutung besagt, dass jeder als unschuldig gilt, bis seine Schuld bewiesen und er durch ein rechtskräftiges Urteil verurteilt wurde. Dadurch soll sichergestellt werden, dass der Angeklagte vor jeglicher Voreingenommenheit geschützt ist.“
Schnelle Hilfe für die Opfer
„Um all diesen Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die die erlittenen Sexualverbrechen oft erst Jahrzehnte später angezeigt haben“, erklärt der Autor, „war die Schweizer Bischofskonferenz der Ansicht, dass diese Menschen zumindest in einem einfachen Verfahren entschädigt werden sollten. Das lobenswerte Grundbedürfnis der katholischen Kirche, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und sie für ihr Leid zu entschädigen, führt derzeit jedoch zu der möglichen Konsequenz, dass sich auch falsche Opfer aus finanziellen oder anderen Interessen melden könnten, um eine finanzielle Entschädigung für sich zu fordern.“ Er fügt hinzu, dass „die drei nationalen kirchlichen Institutionen in der Schweiz am 30. Juni 2016 eine Richtlinie verabschiedet haben zur Zahlung von Entschädigungen an verjährte Opfer sexueller Übergriffe im kirchlichen Bereich. Die Bischofskonferenz hat eine Entschädigungskommission eingerichtet.“
Es verbleibt jedoch ein Problem, das schwer zu lösen ist. Dieses besteht darin, in Verfahren mangels Beweisen zwischen echten und falschen Opfern zu unterscheiden.
Falsche Anschuldigungen
Spörry erwähnt den Fall des ehemaligen Vikars des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg, Nicolas Betticher, der im Rahmen der von ihm (Spörry) geführten Untersuchungen zu Missbrauch im Bistum sechs Bischöfe und Klostervorsteher der aktiven Vertuschung von Missbrauchsfällen beschuldigte und in einem Brief an den Nuntius die sofortige Anwendung des kanonischen Rechts gegen diese Personen forderte.
Nach einer kirchenrechtlichen Voruntersuchung zur Klärung der erhobenen Vorwürfe leitete der vom Vatikan beauftragte Bischof Joseph Maria Bonnemain gemeinsam mit dem Neuenburger Kantonsrichter Pierre Cornu und der Zürcher Strafrechtsprofessorin Brigitte Tag die Untersuchung. In ihrem Bericht samt Einschätzung des Vatikans hieß es, es seien „ausschließlich Fehler, Unterlassungen und Nachlässigkeiten im Rahmen der kanonischen Verfahrensnormen festgestellt worden und es liege kein Verschulden vor, welches die Eröffnung eines kircheninternen Strafverfahrens erfordert hätte, wie es im Falle einer aktiven Vertuschung der Missbrauchsfälle nötig gewesen wäre“, schreibt Spörry.
Der Fall Pater Kentenich
Um dies zu untermauern, zieht Spörry auch den Fall von Pater Josef Kentenich heran, der nie formell eines Verbrechens angeklagt wurde und gegen den nie Vorwürfe gegen seine moralische Integrität erhoben wurden. Auf Kentenichs beharrliche Bitte an das Heilige Offizium, über etwaige Anschuldigungen informiert zu werden, und auf seinen Antrag, einem kirchlichen Prozess unterzogen zu werden, der es ihm ermöglichen würde, sich zu verteidigen und den Beitrag, den er der Kirche leisten wollte, eingehend darzulegen, erhielt er nie eine Antwort. Nach 14 Jahren im Exil erlangte er am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils unter dem Pontifikat von Papst Paul VI. seine Freiheit zurück.
Zu diesem Fall analysiert der Autor „ein weiteres Beispiel einer gegen einen Geistlichen gerichteten Kampagne“. Er bezieht sich dabei auf das Buch „Vater darf das!“ der Wissenschaftlerin Alexandra von Teuffenbach. Er erklärt, dass „es in Deutschland veröffentlicht wurde, um den Seligsprechungsprozess von Pater Josef Kentenich (1885-1968) zu behindern“, und dass „nach der Veröffentlichung des Buches“ (zwei Jahre später) „der Bischof von Trier, Stephan Ackermann, den Seligsprechungsprozess aussetzte und die Zustimmung des Vatikans einholte“. Spörry weist darauf hin, dass „die Wissenschaftlerin so weit ging, vehement die endgültige Annullierung des Prozesses zu fordern“.
Dabei ist zu beachten, dass es sich nicht um die Einstellung des Seligsprechungsprozesses handelt, sondern um eine präventive Suspendierung.
Spörry kritisiert „die sofortige Einstellung des Seligsprechungsverfahrens ohne eine genauere fachliche und objektive Untersuchung“. Es scheine „eine selbstschützende Reaktion des Trierer Bischofs zu sein, um in der Öffentlichkeit nicht als inaktives Oberhaupt der Kirche dazustehen“. Der Autor ist der Ansicht, man habe „ein laufendes Verfahren ohne weitere Überprüfung eingestellt, um nicht weiterer medialer Kritik und voreingenommenen journalistischen Angriffen ausgeliefert zu sein“.
Der Autor meint, dass „der Bischof vor der Aussetzung des Verfahrens eine summarische Prüfung der Richtigkeit der in dem oben genannten Buch enthaltenen Aussagen hätte vornehmen müssen“. Er meint, dass „andernfalls jede öffentliche Bekräftigung ohne rechtlich bestätigten Beweiswert das laufende kirchliche Verfahren unmittelbar beeinflussen könnte“. Und er schließt: „Eine summarische Prüfung hätte gezeigt, ob die Behauptungen im Buch des Historikers rechtlich zulässig und damit für das Seligsprechungsverfahren relevant sind.“
Es ist anzumerken, dass Spörry kein Mitglied einer Schönstattgemeinschaft ist. Seine Meinung steht außerhalb der Schönstattbewegung.
Vier Voraussetzungen für die Erklärung einer kriminellen Tätigkeit
Spörry stellt fest, dass für die Zulässigkeit der Feststellung einer strafbaren Handlung vier Bedingungen erfüllt sein müssen und erläutert diese Aussage anhand des Falles Kentenich.
Erstens stellt er fest, dass ein ausreichendes Minimum an objektiven Beweisen erforderlich sei.
Der Autor erläutert zu diesem konkreten Fall, dass „der Historiker aus Tausenden von in verschiedenen Archiven gefundenen Briefen der Marienschwestern“ (aus dem Archiv des Heiligen Offiziums – heute Dikasterium für die Glaubenslehre) „einen einzigen Brief vom 20. September 1948 einer Schwester, Georgia Wagner, auswählt. Der Autorin (des genannten Buches) scheint klar, dass hier dem Text der Schwester zufolge etwas moralisch Verwerfliches vorgefallen sein muss, das schließlich in der persönlichen Interpretation der Autorin zu sexuellem Missbrauch wird. In diesem Brief findet sich jedoch keine einzige Beschreibung, auf die sich der Vorwurf des körperlich-sexuellen Missbrauchs durch Pater Kentenich stützen ließe. Da der Wortlaut des Briefes einen solchen Schluss nicht zulässt, hätte eine solche Interpretation eine intensive Untersuchung der Person Georgia Wagner und der Umstände erfordert.“
Er fährt fort: „Wichtige Ereignisse, wie die Ablösung dieser Marienschwester als Oberin der Gemeinschaft in Chile und ihre Bitte, nach Deutschland zurückzukehren, ihr sich infolge der Basedow-Krankheit verschlechternder Gesundheitszustand und die Auswirkungen auf ihr Verhalten werden völlig ignoriert. Das gesamte Beziehungsumfeld innerhalb der Gemeinschaft der Marienschwestern und ihre enge Beziehung zu einem Pallottiner, Pater Ferdinand Schmidt (ihrem Beichtvater; einem bekannten Gegner Pater Kentenichs), werden ebenfalls ignoriert. Alle diese und andere kontextuelle Bezüge wurden völlig ignoriert.“
Zweitens weist er darauf hin, dass ein schwerwiegender Vorfall erforderlich sei, um dem behaupteten Vorwurf ein öffentliches Informationsinteresse zu verleihen.
Auf den Fall Kentenich angewandt heißt es dort: „Da Pater Kentenich kein rechtswidriges Verhalten nachgewiesen werden kann, liegt auch kein Vorfall von schwerwiegender Bedeutung vor, der ein berechtigtes Interesse an seiner Denunziation begründen könnte.“
Drittens weist er darauf hin, dass es nicht zu einer einseitigen Darstellung kommen und diese nicht durch Vorurteile verfälscht werden dürfe.
Bezüglich einer möglichen Einseitigkeit in von Teuffenbachs Recherchen stellt Spörry fest: „Die Historikerin hat fast ausschließlich im Archiv der Limburger Pallottiner nach einigen Briefen von Schönstätter Marienschwestern gesucht, die sich über den Gründer dieser Bewegung beschwerten. Damals – vor rund 70 Jahren – gab es in der Schönstattbewegung rund 1.500 Marienschwestern. Darunter hat sie zehn Schwestern gefunden, die mit der Leitung der Bewegung durch Pater Kentenich oder mit der Gemeinschaft unzufrieden waren. Diese Briefe, denen zudem inhaltliche Bezüge und Analysen fehlen, bilden die Grundlage ihres Buches. Die Autorin versucht, die Inhalte dieser Briefe so in Beziehung zu setzen, dass sich daraus ein systematischer Missbrauch des Gründers gegen die Marienschwestern im Allgemeinen und gegen die unzufriedenen Marienschwestern im Besonderen ableiten lässt.“ Und er kommt zu dem Schluss: „Der Standpunkt Pater Kentenichs wird äußerst rudimentär und abwertend dargestellt.“ Argumente und Informationen, die für die Unschuld Pater Kentenichs sprechen könnten, werden überhaupt nicht vorgetragen.“ Ähnliches findet sich auch im Archiv des Dikasteriums für die Glaubenslehre zuhauf.
Es sei darauf hingewiesen, dass die zehn unzufriedenen Schwestern, auf die sich die Autorin bezieht und die diese kritischen Briefe über Pater Kentenich schreiben, dies 15 Jahre – und mehr – nach dem Brief von Schwester Georgia tun. Sie schreiben auf Ersuchen von Pater Köster, einem Pallottinerpater, der gegen Pater Kentenich eingestellt war und diese Briefe im Pallottinerarchiv in Limburg sammelt. Diese Schwestern waren bereits aus der Gemeinschaft ausgetreten, als sie schrieben. Ein anderer Pallottinerpater führt von Teuffenbach in dieses Archiv, wie die Autorin selbst in ihrem Buch erläutert. Diese Briefe befanden sich bereits im Archiv des Seligsprechungsprozesses von Pater Kentenich in der Diözese Trier. Pater Köster hatte sie 1990 zu den Akten des Seligsprechungsprozesses gegeben, genau mit dem Ziel, den Prozess zu stoppen, was damals jedoch nicht geschah.
Und viertens muss der Betroffene gehört werden und die Möglichkeit erhalten, seine Sicht der Dinge darzulegen.
Spörry stellt hierzu fest: „Aus der fraglichen Veröffentlichung und der Reaktion des Säkularinstituts der Schönstätter Marienschwestern lässt sich schließen, dass die Autorin vor der Veröffentlichung ihres Buches keine Rücksprache mit den Marienschwestern gehalten hat und damit den Personen, die die postmortalen Rechte Pater Kentenichs ausüben können, keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat.“
Lösungsvorschlag für die Schweiz
Der betreffende Artikel kehrt zum Lokalthema Schweiz zurück, wo vorgeschlagen wird, dass „die Schweizer Bischofskonferenz das Straf- und Disziplinargericht auf nationaler Ebene einrichten solle, um eine koordinierte nationale Beurteilung von Opfern und Tätern zu erreichen.“ Er schließt mit der Feststellung, dass „es wünschenswert wäre, wenn das Schweizerische Straf- und Disziplinargericht allen betroffenen Parteien (Opfern und Angeklagten) volle Parteirechte im Verfahren zugestehen würde, die mit der ordentlichen Strafprozessordnung vergleichbar sind, und damit auch Transparenz und Gerechtigkeit für alle schaffen würde. Die Schweizer Bischofskonferenz hat die Ziele festgelegt, aber wie das Sprichwort sagt: ‚Der Teufel steckt im Detail‘.“
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Übersetzung dieses Artikels ins Deutsche: Agathe Hug
Originalartikel von Philipp Spörry auf Deutsch: https://www.kath.ch/medienspiegel/der-umgang-mit-der-problematik-des-sexuellen-missbrauchs-als-herausforderung-fuer-die-katholische-kirche/
Philipp Spörry’s article in Spanish: https://www.vivitmedia.org/2024/12/18/afrontar-abusos-sexuales-un-reto/
Foto: Fribourg cathedral, Switzerland
Dieser Artikel wurde ursprünglich veröffentlicht von www.Exaudi.org